Wir alle leben vom Vergangnen und gehen am Vergangenen zu Grunde.
J.W.v. Goethe, Maximen und Reflexionen
Wir blicken so gerne in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich in ihr hin- und herbewegt, durch stille Wünsche so gern zu unseren Gunsten heranleiten möchten.
J. W. v. Goethe, Die Wahlverwandtschaften
Und auf der grünen Burg in der Nacht, wo wir vor dem Sturm nicht schlafen konnten - sagtest Du damals nicht, der Wind komme aus der Ferne, seine Stimme töne herüber aus der Vergangenheit und sein feines Pfeifen sei der Drang, in die Zukunft hinüberzueilen?
Karoline von Günderode
Man sichert sich die Zukunft, wenn man die Vergangenheit ehrt.
Kaiserin Augusta
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Eigene Philosophie
Eine von mehreren Gedanken und Warnungen bei meinem Arbeiten und Tun:
Die Masse kritisiert oft mit Kühnheit die Entscheidungen ihrer Führer;
sobald sie aber die Strafe vor Augen sieht, traut keiner mehr dem anderen,
und jeder ist nur bestrebt zu gehorchen.
(Nicolò Machiavelli)
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Hans Albert: "Es gibt weder eine Problemlösung, noch eine für die Lösung bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendigerweise von vornherein der Kritik entzogen sein müßte. Man darf sogar annehmen, daß Autoritäten, für die eine solche Kritikimmunität beansprucht wird, nicht selten deshalb auf diese Weise ausgezeichnet werden, weil ihre Problemlösungen wenig Aussicht haben würden, einer sonst möglichen Kritik standzuhalten. Je stärker ein solcher Anspruch betont wird, um so eher scheint der Verdacht gerechtfertigt zu sein, daß hinter diesem Anspruch die Angst vor der Aufdeckung von Irrtümern, das heißt also: die Angst vor der Wahrheit steht."
(Traktat über kritische Vernunft, 1968,S.44)
Eine neue Bürgerschaft fällt nicht vom Wertehimmel, sie bildet sich in Konflikt und
Kooperation, Wahrnehmung und Neugierde, Unverständnis und Gespräch.
(von: www.potsdamer-toleranzedikt.de)
Quam non est facilis virtus! Quam vero difficilis diuturna simulatio!
(Cicero)
Und Cicero hat hier eine wesentliche Komponente zu möglicher menschlicher Zerrissenheit sehr schön und kurzgefasst festgehalten; die Tugend ist wahrlich sehr beschwerlich, ihr zu entsprechen eine Herausforderung. Aber, und das führt er folgerichtig fort, ebenso schwierig ist es, Tugend dauernd zu heucheln. Nicht nur Lügen haben kurze Beine, auch die Heuchelei wird häufig schnell entlarvt. Wie hat Francois Duc de la Rochefoucauld es einst schon so prägnant festgehalten: "Wir müßten uns unserer guten Taten schämen, wenn die Beweggründe ans Licht kämen." Und inwieweit seine Aussage "Es ist schwerer, Gefühle, die man hat, zu verbergen, als solche, die man nicht hat, zu heucheln." ihre Entsprechung in der Wirklichkeit findet, mag jeder für sich selbst herausfinden und beantworten. Entsprechende Beobachtungen und Überlegungen dürften in Zustimmung münden ...
Lassen Sie mich einmal als vielleicht unüblichen Einstieg in Philosophiebetrachtung den Aspekt der Heuchelei aufgreifen. Jene unterscheidet sich, auch wenn das in der Alltagssprache häufig anders gehandhabt wird, von der Lüge. Wir können also diese beiden Begrifflichkeiten nicht synonym verwenden, wollen wir Fehler vermeiden und keine untragbaren Verkürzungen schaffen.
Bei der Lüge wird nämlich (erkannt) Falsches als richtig, als Wahrheit ausgegeben. Die tatsächliche Faktenlage wird mißbraucht, vorenthalten. Dies geschieht über das Mittel der Unwahrheit, also der Lüge.
Bei der Heuchelei wird demgegenüber Ablehnung oder Gleichgültigkeit in Überzeugung umgewandelt; Heuchler(innen) tun so, als vertreten sie etwas aus mehr oder wenigr tiefer Überzeugung, spiegeln also vor, hinter einem ethisch begründeten Verhalten zu stehen. Es wird beim Heucheln also ein Wert oder gar ein Wertekanon gepriesen, vertreten, gepredigt, obgleich man innerlich sich davon distanziert hat. Man erscheint also mit einer ethisch-moralisch Gesinnung, die lediglich eine Opportunitätsmaskerade darstellt.
Versucht man nun zwischen Lüge (also der Verdrehung von Fakten) und dem Heucheln (dem Vortäuschen einer angeblichen Werthaltung) zu gewichten, dann könnte man sehr wohl zu dem Ergebnis kommen, daß Heucheln "schlimmer" als Lügen ist, eben dann wenn man Werten Priorität gegenüber Fakten zuschreibt. Einen Schritt, den ich persönlich nachvollziehen kann. Damit sei jedoch nicht die Lüge, die ja auch als "negative" Verhaltensweise klassifiziert wird, verharmlost!
Es hat grosse Vorteile, wenn man sich an das neunte Gebot hält und nicht lügt: Man hat ein reines Gewissen, braucht keine Ausreden zu erfinden und verwickelt sich nicht in Widersprüche. Aber in einem Staatswesen wie der Bundesrepublik immer bei der Wahrheit zu bleiben, grenzt an Dummheit. Wo die Lüge zum System gehört, muss jeder lügen.
Mein Vermieter, meine Versicherung, mein Gemüsehändler, mein Bäcker, mein Wasserlieferant, mein Chef, mein Arbeitskollege, mein Nachbar, mein alter Schulfreund ... man kann jeden Aspekt des täglichen Lebens nehmen, nirgends gibt es Sicherheit und Vertrauen, überall und bei jedem muss man mit Lüge, Betrug und Gewissenlosigkeit rechnen.
Es hat keinen Zweck, darüber zu jammern: Die Lüge ist systemimmanent und man muss mit dieser Situation leben, sie wird sich nicht ändern. Ausser der Tatsache, dass die Lüge eine bewährte Methode im Kampf um Geld und Ansehen ist, gibt es noch einen anderen Gesichtspunkt: Die Menge der wirklich streng objektivierbaren Sachverhalte ist wesentlich geringer, als man landläufig annimmt.
Alle wirklich wichtigen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Sachverhalte, sind nur subjektiv zu charakterisieren. Diese Tatsache begünstigt ausserordentlich Lüge, Täuschung und Unehrlichkeit. In den meisten Fällen existiert gar keine objektive Sicht der Dinge. Wem Lüge vorgehalten wird, der kann sich in der Regel auf einen speziellen und subjektiven Standpunkt zurückziehen, der legitim ist und der subjektiv sogar auch 'wahr' sein kann!
• Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.
(Henrik Ibsen)
• Erzähl deinem Freund eine Lüge - wenn er sie geheim hält, erzähl ihm die Wahrheit.
(Friedrich Rückert)
• Wahre Worte sind nicht angenehm, angenehme Worte sind nicht wahr
(Laotse)
Oft werden Heuchelei und Lüge gleichgesetzt. Das ist verständlich, geht aber fehl. Zwar gehört die Lüge zur Heuchelei, aber nur in sehr besonderer Weise; die Lüge, die bei der Heuchelei mitspielt, ist eine Lüge mit der Wahrheit. Lügen und Heucheln gleichsetzen ginge an, wenn immer nur mit der Wahrheit gelogen würde. Das aber ist mitnichten der Fall.
Lügen haben kurze Beine, heißt es; vom Heucheln kann man das nicht sagen. Der Heuchler muß nicht die Wirklichkeit im ganzen umlügen, die ihn wegen ihrer Unendlichkeit doch einmal einholt; seine Lüge bleibt subjektiv, betrifft nur seine Bewußtseinshaltung, seine Wahrhaftigkeit und auch nur die innere Seite davon; der Wirklichkeitsgehalt wird im Unterschied zum Lügner dadurch nicht berührt.
Der Lügner macht die Wahrheit unkenntlich, läßt sie verschwinden; durch den Heuchler hingegen wird die Tugend geradezu überdeutlich und bekommt Existenz auch unter widrigen Bedingungen. Er geht mit der Tugend Kompromisse ein, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Das ist das Entscheidende, das diejenigen, die die Heuchelei von der Seite ihrer Unwahrheit aus angreifen, gerade verkennen. Der ethische Rigorist hält die Werte hoch, die durch die Heuchelei verletzt werden; er hält damit aber auch die Bedingungen aufrecht, die die Heuchelei für ihre Existenz braucht, und zudem bleibt er blind für die sozialen Gründe und Leistungen der Heuchelei. Denn sie erschließt die materiellen und egoistischen Interessen als Energiequellen der Moral, indem sie individuelle Motive und soziale Werte, die Ideale des Gemeinsinns und die Interessen des Egoismus allererst verbindet. Die Heuchelei erweist so in ihrer janusköpfigen Gestalt zugleich ihre kulturelle Leistung: Im Innern des Heuchlers ist sie Abwesenheit von Aufrichtigkeit, jedoch nach außen hin bestärkt sie gerade jene Tugenden und Regeln, denen sie innerlich gleichgültig gegenüber steht. Keine Zivilisation ohne Heuchelei.
Ich möchte meine Gedanken -- nicht nur in diesem Zusammenhang -- einem anderen Phänomen, geboren aus Veränderung und Verschweigen (also letzten Endes auch eine Form von Heuchelei, diese in der Spannung von den Möglichkeiten des Glücks und dem schmalen Grat zum Unglück), kurz zuwenden. Wie entwickeln sich lange Beziehungen (hier auch die Frage: Wie lang ist "lange" zu sehen) bis hin zum (späteren) Ehealltag? Siri Hustvedt beschreibt in ihrem Buch The Summer Without Men ein darauf bezogenes Empfinden wie folgt: "But there is another aspect of long marriages that is rarely spoken about. What begins as ocular indulgence, the sight of the gleaming beloved, which incites the appetite for around-the-clock rumpty rumpty, alters over time. The partners age and change and become so accustomed to the presence of the other that visions ceases to be the most important sense. (...) Sometimes after we had done the deed, and he walked naked across the room, I would lookat his long pale body with its round belly and his left leg with its blue varicose vein and at his soft well-formed feet, but not always. This is not the voluntary blindness of new attraction; it is the blindness of an intimacy wrought from years of parallel living, both from its bruises and its balms." (Sceptre 2011,S. 136 f.)
Bleibt die Frage, ob eine derartige Abstumpfung im Beziehungsalltag zwangsläufig ist, ob ein solches Arrangieren mit Lebensgestaltung unausweichlich ist. Viele verfallen, um genau diesem Dilemma zu entgehen, der Sucht nach dem Neuen, führen auf Beziehungsebene das ein und fort, was unsere Wegwerfgesellschaft nicht nur im Kontext von Konsumwahn propagiert. Aber ist das eine Lösung, die zur Zufriedenheit führen kann? Oder hilft ein Dauerzustand des unaufhörlichen Appetitanregens, bis zum endgültigen Kollabieren ein geniales Täuschungsverfahren hochzuhalten. Man kann nämlich vielfältig heucheln, auch gegenüber sich selbst.
Letztlich erhebt sich die Frage, was ist wirklich Glück und wie ist dieses Glück möglich, wie lange läßt es sich erhalten.
Dies ist auch ein "ewiges" Thema für Eric Rohmer. Ich mag seine Filme (oft zum Verdruß meiner Umgebung, die sich damit nicht immer anfreunden kann, um es einmal gelinde auszudrücken) mit diesen endlosen, teilweise recht intellektuellen Dialogen. Wie bei keinem anderen der großen französischen Filmemacher der "Nouvelle Vague" geht es bei Rohmer immer wieder um die Bedingungen und Umstände, unter denen Glück möglich ist. In einer einzigartigen Verbindung aus klassischem Theater und filmischen Neorealismus schickt er seine stets jungen Helden in feinsinnige Dramen um die Beziehung von Mann und Frau, die erotische Anziehung, um Liebe, Eifersucht, Rivalitäten, aber auch moralische Skrupel.
Nur, wie immer man sich mit der spannenden Frage und Antwortsuche nach menschlichem (Bindungs-) Verhalten auch auseinandersetzen mag, welche Quellen man hierbei auch noch so sehr bemühen mag, mit welchen noch so unterschiedlichen Personen man hierzu die geistige und emotionale Auseinandersetzung sucht: In letzter Konsequenz bleibt man eher irgendwie allein, dies dann mit der Aufgabe, eine für sich genehme Antwort zu suchen und zu finden -- und diese dann auch noch praktikabel zu machen ...
... wird demnächst weiter ausgeführt ...
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