Texte 2
Wind und Wellen sind immer auf der Seite des besseren Seefahrers.
(Edward Gibbon, Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches)
Wer ist man selbst, wo ist man jeweils und wohin -- wenn überhaupt -- soll es noch gehen?
(Fragen, die man sich nicht nur an Schlüsseltagen wie Geburtstag oder Silvester /Neujahr etc. stellen sollte ...)
Non exiguum temporis habemus, sed multum perdidimus.
(Lucius Anneaus Seneca, aus: De Brevitate Vitae. // i.e.: Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nützen. )
Man verliert die meiste Zeit damit, daß man Zeit gewinnen will.
(John Steinbeck)
Diese einleitenden Gedanken über "Zeit" sowie die (oberflächlich betrachtet banal klingende) Frage, "wo" man denn eigentlich (im jeweiligen Augenblick) ist und "wohin" die Reise gehen soll, wohin sie gehen wird, erinnert mich auch an das bekannt Gedicht "Der Radwechsel" von Bertold Brecht ("Ich sitze am Straßenhang. / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / mit Ungeduld?") und all diese Gedanken sollen nun zunächst an einem Romanauszug gespiegelt werden:
(...) Der Horizont scheint endlos weit, wirkt fliehend. Ausläufer des Wassers lecken in regelmäßigem Rhythmus am flachen, breiten Sandstrand. Möwen schaukeln auf den Wellen, haben sich auf den zahlreichen hölzernen Buhnenpfählen niedergelassen, fliegen, kreischen oder stolzieren auf dem Sand. Manche in Gruppen, einige alleine. Es wird sicherlich Gründe dafür geben. Möwengründe. Und immer wieder einige Fischreiher. Wie Statuen wirken sie bisweilen. Gelebte Ausdauer oder eine stoische Ruhe. Wer weiß das schon.
Das Meer scheint endlos. Fern, weit, weit dort drüben verschwinden Meer und Horizont ineinander. Irritierter Blick? Gedanken?
Wo ist der Ort? Wohin zieht die Zeit? Wo Stille und Bewegung zugleich? Wohin all die Gedanken? Wo ist denn das: Wo? Welche Richtung ist denn das: Wohin?
(...)
Aber es überwiegt alles in allem: die angenehme Leere hier. Nicht diese Hektik, nicht das Laute aus menschlicher Wichtigtuerei oder jenes törichte Haschen nach Aufmerksamkeit als Ausdruck ekelerregender Hohlheit, eine von mehreren unerträglichen Geißeln der Moderne.
Vor allem kein Gedränge. Und kein Drängen!
In diese Beschaulichkeit tauchte dann sie. Sprach zunächst nur kurz etwas. Irgendwelche Floskeln. (Er erinnert sich nicht mehr genau.) Setzte sich neben ihn in den Sand ohne groß auf ihre Kleidung zu achten. Cargohose im Tarnlook. Erinnerte ihn an seine unliebsame, ihm zunächst aufgezwungene Militärzeit, die er dann sehr schnell für immer hinter sich gelassen hatte. Ihren schwarzen Parka trug sie trotz der doch kühlen Brise halb offen. Darunter ein Flanellhemd aus Teddyfleece, Textur mit roten, schwarzen und in grautönen gehaltenen Karos, von dezenten weißen Streifen gegliedert. Die Kleidung wirkte schlicht, alles andere als der leider längst so sehr verbreitete modische Aufschrei, gespeist aus nach unbedingt auffallen wollenden Attitüden. An ihr erschien sie ihm geschmackvoll und sorgsam ausgewählt. Ihr Hals verdeckt durch einen mehrfach um ihn gewundenen gelben Wollschal. Das Haar trug sie offen. Vom Wind leicht zerzaust. Schulterlänge. Vor allem auch: ungeschminkt. Offensichtlich war sie frei von Werbeverlockungen. Der Anschein: ihr mußte niemand sagen, wie man zu erscheinen hat; sie wußte für sich selbst, was das Richtige, das Angemessene war.
Und Immer wieder dieses befreite Lächeln, passend zu ihrem jeweils natürlichen Gesichtsausdruck. Nichts von erzwungener, aufgesetzter Gesichtskontrolle aus gespielt-freundlicher Maskenhaftigkeit. Einfach wohltuend und angenehm ihr Erscheinungsbild. Kein Abklatsch aus Modezeitung oder Fernsehwerbung. Frei von jeder Form eines Nachahmungstriebes. So zumindest wirkte sie. Vor allem: ihr Vorbild schien sie selbst zu sein. Immer seltener diese erbauliche Art von Mensch ...
Eine lebendige, natürliche Ungehemmtheit, jedoch wohlwissend um Grenzen von Nähe und Distanz. Angenehm. (Vielleicht fast zum Verlieben. Wer weiß das schon.)
Sie schaut ihn immer wieder an. Nur kurz. Dann ihr Blick aufs Meer gerichtet. Fast nie auf den endlosen Strand. Ihr wechselnder Blick. So als suche sie etwas. Irgendwo, irgendwie.
Später streckte sie ihre Beine aus, legte sich, auf ihren linken Arm stützend, so den Oberkörper und ihren Kopf noch etwas höher haltend, mit Blick auf ihn hin. Ihre dunklen Augen leuchteten immer wieder auf, als sie weiter redete. Nicht viel. In unregelmäßigen Abständen. Interessiert, neugierig, zugleich mitteilsam. Dies alles in angenehmer Unaufdringlichkeit. Sie erschien ihm stimmig, eine Einheit an Person, wohlwissend und fragend zugleich. Sowohl der Wirklichkeit als auch dem Rätselhaften gegenüber offen.
Sein Blick habe sie sofort interessiert. Dieses gleichzeitige Vermischen von Nähe und Ferne, von Verlorenheit und Geborgenheit. So empfinde sie das zumindest. Sie finde es schön, jetzt hier zu sein, so frei reden zu können, empfinden zu können, fragen zu können, sie fühle einen Hauch notwendige Offenheit und unverzichtbares Insichgekehrtsein zugleich.
Er weiß nicht, was er dazu sagen soll. Er hatte darüber nicht nachgedacht, eigentlich über gar nichts, war einfach nur so da gesessen und hat das Meer in all dessen Erscheinungen und all der Lebendigkeit auf ihn wirken lassen. Eher für ihn so aneinandergereihte Augenblicke einer Art von Zufriedensein. Gelassenheit im jeweiligen Wahrnehmen. Sein Gefühl ist zwiespältig. Er hätte sich nicht einfach zu jemanden Fremden dazusetzen können. Einfach so ansprechen das ist ihm nicht gegeben. Aber es tut ihm gut, daß sie nun da ist, das spürt er deutlich. Nur weiß er nicht, was er sagen soll. Reden ist er nicht so gewohnt. Hat sich seit Jahren immer mehr in sich eingeschlossen. Öffentlichkeit weitgehend gemieden. Irgendwie erscheint ihm ihre Nähe eher märchenhaft. Als wäre das alles nicht wirklich. Nur ein Traum.
Sie erzählt von sich. Spricht eher langsam und bedächtig. Er hat nicht das Gefühl, sie habe den für viele Leute so üblichen Redebedarf, um sich ihr Dasein, ihre Existenz selbst beweisen zu müssen. Sie buhlt nicht um Aufmerksamkeit. Sie überfällt ihn vor allem schon gar nicht mit Wortschwadroniereien. Sie findet immer wieder Zwischenpausen. Wartet, ob er etwas und was er sagen möchte, was er über dies und das denn denke. Sie ist ein angenehmer Mensch. Sehr angenehm. Auch empfindet er sie längst schon als schön, als ausdrucksstark. Sie hat das, was man persönliche Note nennt. Auch nicht mehr so selbstverständlich in dieser Zeit. Aber in ihm ist auch eine Art von Beklemmung. Er hat ein Gefühl, als könne sie ihm zu angenehm werden. Nicht daß er dieses Gefühl nicht ertragen könnte, nein, vielmehr die Furcht davor, damit dann umgehen zu müssen. Und es nicht zu können.
Sie redeten viel miteinander. Zunächst viel Bedeutungsloses, das jedoch durch genau diese Situation des gemeinsamen Stranderlebens Bedeutung erlangte. Nebensächliches wurde so plötzlich zu einer Hauptsache. Das schöne Gefühl, miteinander reden zu können. Das Gefühl von innerer Heiterkeit. Das Gefühl von Wesentlichkeit. Und vor allem: ein Spüren, es könne tiefer gehen mit den Gedanken. Und so war es dann auch tatsächlich.
Bei ihr klang das jedoch überhaupt nicht aufgesetzt, nicht irgendwie mühsam oder gar krampfhaft aus den Gehirnwindungen herausgequetscht, sondern wie etwas, das wie von selbst aus ihrem tiefsten Inneren nach außen drängte. Ein Form von einer ehrlich gelebten Selbstverständlichkeit, ein offensichtlich grundlegender Teil ihres Seins.
Sie möge das Meer, diese Weite, die Vorstellung von Unendlichkeit, das Spiel der Möwen im Wind, einfach all das, was Meer ausmacht. Ab und zu Leute zu treffen. Sie vielleicht auch etwas näher kennenzulernen. Dies mehr oder weniger intensiv. Es gebe Tage, da falle es ihr leicht, jemanden anzusprechen. Allerdings auch jene Tage, wo es ihr überhaupt nicht gelänge, Tage, an denen sie in ihrem Schutzpanzer geradezu verharre. Letzteres sei ungleich häufiger der Fall. So sei es eben mit dieser Verschiedenheit im Erleben von Augenblicken. Ohnehin sei doch alles freilich nur ein Ausdruck von mehr oder weniger abgrenzbarer Augenblicksbegebenheiten. Kaum erfaßbar, noch weniger erklärbar. So auch die Orte. Das jeweilige »Wo«. Damit verbunden natürlich auch das »Wohin«. Ein Ort bleibe niemals der Ort als der er im Moment erscheine. Er verändere sich fortwährend. Und ein geplanter Weg würde niemals das Abbild einer Vorstellung sein können. Das Wohin letzten Endes als eine Unwägbarkeit, als etwas nicht genau zu Erfassendes, somit immer im Vagen verbleibend. Wohl zumeist von Zufällen abhängend.
Er versteht nichts. Für ihn sei der Ort doch wahrnehmbar, umfaßbar, greifbar, beschreibbar eben eine eindeutige Erscheinung. Und käme er morgen wieder beispielsweise hierher, dann wäre dies immer noch der konkrete Ort, der Platz den er heute gefunden oder aufgesucht habe und den er deswegen oder aus anderen Gründen dann erneut angestrebt habe. Damit sei doch auch das »Wohin« beantwortbar. Er habe etwas als angenehm, als wohltuend, als erbaulich erlebt, dieses Gefühl mit genau jenem Ort verbunden und ihn vielleicht gerade aus diesem Grunde erneut angesteuert.
So sei es eben nur zum Teil. Natürlich führe einen eine gute Erinnerung häufig wieder zurück an jenen Platz, wo dieses Gefühl sich entfalten konnte. Man kann diesen Ort sozusagen rein geographisch erfassen. Aber käme man einmal wieder dorthin, es wäre eben nicht mehr derselbe Ort. Auch ein Ort verändere sich von Minute zu Minute mag er äußerlich vielleicht als unverändert scheinen. So wie man nicht zweimal in denselben Fluß steigen könne, so sei es unmöglich ein zweites Mal denselben Ort zu erleben. Ähnlich vielleicht schon, keineswegs jedoch identisch. Und so sei es auch mit der Antwort auf die Frage eines »Wohin«. Genau sei eben nichts beschreibbar.
Er versteht erneut nichts davon, allenfalls nur eine winzige Kleinigkeit. Es sei das Fühlen, das für veränderte Wahrnehmung sorge, das versuche, den Ort anders erscheinen zu lassen, der Ort selbst sei jedoch eher unveränderlich, zumindest im Rahmen eines längeren Zeitraumes. Und das »Wohin« beantworte sich doch aus dem Wollen, aus dem Wunsch, aus dem Benennen eines Zieles.
Sie schweigt zunächst. Blickt erneut in die Ferne. Schaut dann zu ihm. Wieder in die Weite. Zu ihm. Sie setzt sich auf, umfaßt ihr nun aufgestelltes linkes Knie mit beiden Armen und legt den Kopf leicht seitlich geneigt darauf, meint dann nach einigem Zögern, so einfach sei das nicht mit dem Benennen eines Zieles, genau wie es auch nicht möglich sei, Eindeutigkeit über das Wo und das Wohin zu erlangen. Es gebe allenfalls Abbilder davon, wenn man so wolle, die Illusion von allem. Aber nie Gewißheit. Das sei nicht möglich. Man müsse diese Ungewißheit, diese Unsicherheit, ja, auch die sich daraus ergebende Spannung ertragen, ob man wolle oder nicht.
Was sie denn damit meine, er verstehe sie nicht. Es sei doch wirklich, daß sie beide jetzt hier zusammen an genau diesem Ort, am Meer, mit all den möglichen Blicken säßen, daß sie miteinander sprächen. Dies alles sei doch wahrnehmbar, ein- und abgrenzbar, genau zu erfassen und sogar auch zu beschreiben, wenn man dies denn möchte.
Ja, das stimme schon so, aber es sei dennoch nur der Augenblick, dieser Ausschnitt aus einem fortwährenden Verlauf, ein Auftauchen und ein Verschwinden in einem Kontinuum, das Ganze ließe sich eben nicht festmachen, festhalten, ausdrücken. Der Augenblick als eine winzige Begebenheit im großen Unerfaßbaren und Unsagbaren. Mehr sei da nicht zu holen. Es sei nur Genuß und Freude und natürlich das Gegenteil ebenfalls, wie zum Beispiel Öde und Leid , welche im Augenblick zu erleben und zu benennen seien. Sie fühle sich im Jetzt wohl, sei froh, diesen Augenblick mit ihm gefunden zu haben und erleben zu dürfen. Aber das werde schon bald wieder Vergangenheit sein, vielleicht auch eine Vergangenheit aus der Neues erwachse. Jedenfalls dann aber nicht mehr derselbe Ort, selbst wenn dies genau an dieser Stelle stattfinden würde. Selbst wenn sie von dieser Stelle aus nun gemeinsam irgendwohin aufbrächen, wäre dies mit jedem Schritt ein Stück Veränderung, ein Abschied vom Jetzt, ein Gehen von Augenblick zu Augenblick als winzige Erlebnisteile eines vielleicht Ganzen.
Für ihn anstrengend, ihre Gedanken. Er weiß, das würde ihn sicherlich lange Zeit beschäftigen, das weiß er, dazu kennt er sich zu gut, ihn vielleicht gar nicht mehr so ganz loslassen. Vor allem: auch sie nicht. Er wird, dessen ist er sich sicher, diese Augenblicke in sich behalten.
Mit den Menschen sei es doch auch nicht anders, fährt sie fort. Sie ändern sich doch, auch wenn es äußerlich nicht so deutlich scheinen mag. Wem könne man denn schon all die Versprechungen, all die Zusagen, all die Schwüre glauben. Im Moment mag das ja alles bei vielen sogar ehrlich gemeint sein, aber sei der Augenblick erst einmal entschwunden, wäre es auch mit all den Beschwörungen und Vorhaben vorbei. Neue Umgebung, neue Zeit also so auch neue Innerlichkeiten. Selbst wenn die Außenmasken unverändert sein mögen.
Sie lacht ihn an, länger als bislang. Meint, sie werde nun gehen, es habe ihr gefallen und gutgetan, ihn hier zu treffen, mit ihm reden zu können. Sie steht auf, etwas mühsam vom langen Sitzen im Sand, legt ihre rechte Hand auf seine Schulter und streicht ihm über den Kopf. Wir werden uns bestimmt wiedersehen, meint sie dann. Sie sei sich dessen sicher.
Er unterläßt es, sie nach dem Wo, nach dem Wann und nach dem Wie zu fragen. Er weiß ja eigentlich viel über einige ihrer Gedanken, nichts jedoch über ihren Alltag, weder er noch sei haben sich vorgestellt, nichts wurde gesprochen über Herkunft, über den Umgang mit der Zeit. Er kann da nicht an ein zufallsabhängiges Wiedersehen glauben. Aber sie zu fragen, mit ihr etwas auszumachen, dazu ist er auch nicht in der Lage. So schweigt er eben. Spürt dabei ein Stück Traurigkeit, eine Traurigkeit, die er all die Zeit, in der er mit sich alleine war, nie verspürt hatte.
Sie durchbricht die Stille, die Schweigsamkeit.
Ab und zu arbeite sie auf dem Ausflugsschiff, jenes das auch Kranichfahrten anbietet. Manchmal kellnere sie in einem örtlichen Lokal. Und so groß sei der Ort ja auch wieder nicht, daß man sich übersehen könne. Dabei lacht sie erneut. Fast schon ermutigend. Ihm ist danach jedoch nicht zumute. Er empfindet vielmehr das Fliehen des Jetzt, er empfindet: Verlust, ihm ist es, als verliere er etwas. Was, das weiß er selbst jedoch auch nicht. Er hat ja nichts besessen, also gibt es auch nichts zu verlieren. So sein Gedanke. Das Gefühl spricht jedoch eine andere Sprache. Geht ganz andere Wege.
Er sieht ihr lange nach, bis sie immer kleiner wird, mit dem Horizont fast schon eins werdend. Mehrmals dreht sie sich noch um, winkt ihm. Er winkt nicht zurück. Er kann es einfach nicht. Er wirkt wie gelähmt.
Er fühlt es tief in seinem Inneren: die Sekunden fliehen, eine löst die andere ab. Und doch ist da auch so ein gutes Gefühl von Beständigkeit. Im Vergehen bleibt auch etwas. Vielleicht sogar: viel. Das Leben als ein Sammeln von Augenblicken. Augenblicke, welche Hoffnung tragen, Zuversicht wecken, diese Augenblicke die schwinden und gleichzeitig auch in Teilen verweilen ... (...)
(Auszüge aus: Thomas Fagusarua, Von Nebeln umhüllt, Kapitel V)
Die Frage nach der Zufriedenheit ist schnell gestellt, aber wie sieht es mit der Möglichkeit darauf sinnvoll antworten zu können aus? Ich denke, hierfür gibt es zumindest folgende notwendige Bedingung (vielfach bereits dann auch schon die hinreichende ...): um zu wissen, ob man zufrieden ist, muß man wissen, wonach man sich sehnt. Ohne dieses Wissen dürfte jegliche "Antwort" sich allzu sehr im vagen Raum bewegen. Dieser Gedanke erinnert mich an das bekannte Sprichwort Senecas "Ignoranti quem portum petat nullus suus ventus est." (Wenn man nicht weiß, welchen Hafen man ansteuert, ist kein Wind günstig.) Seneca d.J. hat auch diesen anderen wesentlichen Gedanken hinsichtlich eines möglichen Weges zur Zufriedenheit formuliert: "Nicht wer wenig hat, sondern wer viel wünscht (= mehr begehrt), ist arm." ("Non qui parum habet, sed qui plus cupit, pauper est.") Ich denke, beide Aspekte sollten einem bei der Antwort auf die Frage nach persönlicher Zufriedenheit hilfreich sein. Und stets auch -- bescheidener bleibend! -- daran denken, daß man gerade in dem Augenblick, in dem man zufrieden ist, es nicht versuchen sollte, noch zufriedener werden zu wollen. (Diesen klugen Gedanken kennen wir beispielsweise unter anderem auch aus der Feder von Theodor Fontane.)
Wer an Schlüsseltagen (s.o.) -- und hoffentlich nicht nur an denen (dann zudem mit dem Aspekt des "schnellen Vergessens", dem Verbleiben an praktizierter Oberflächlichkeit dann verbunden! -- die Frage nach seinem persönlichen Weg stellen möchte, der oder die wird neben dem "Wer bin ich eigentlich wirklich?" auch fragen, wo man denn tatsächlich ist (also eine realistische Standortbestimmung vornehmen wollen / müssen, wo man denn überhaupt (noch) hinwolle, und vor allem auch, wie man dann etwa dorthin gelangen kann (die notwendigen Bedingungen als Voraussetzung, diesen Weg gehen zu können, untersuchen). Es bleibt die Frage -- für mich persönlich eine mich seit früher Jugend stets begleitende --, wofür man sich überhaupt "abrackert", letzlich sozusagen als summa summarum, was man überhaupt mit seinem Leben anfangen möchte, anfangen kann.
Um seine eigenen Möglichkeiten -- und die sollte man zwar nicht zu eng eingrenzen, gleichwohl realistisch, d.h. ohne irrige Selbstüberschätzung, auch mit Einbezug der persönlichen Kraft und Bereitschaft zur Anstrengung (z.B. des temporären Bedürfnisverzichts zu Gunsten "höherer" anzusteuernder Ziele!), erfassen -- richtig einschätzen zu können, dürften Antworten auf die Fragen, woher man denn überhaupt komme (also die des "So-Gewordenseins") und was man dafür getan (bzw. unterlassen) hat, eine sinnvolle Ergänzung und Hilfe sein. Auch wenn man mit Vergleichen stets vorsichtig umgehen sollte, ist es beileibe kein Fehler, auch auf andere zu blicken, welche Wege die denn beschritten haben und wo sie dadurch heute denn "stehen". Damit meine ich "nur": von anderen gegebenenfalls lernen, wo und insoweit dies möglich ist. Nicht meine ich damit, sich unreflektiert an den Wegen anderer, gar noch unkritisch, zu orientieren, dies obendrein bis hin zum Übel eines Mitläufertums! Es muß für einen ganz persönlich bleiben, was ich eingangs festgestellt habe: Man muß wissen, wonach man selbst sich sehnt, welchen Weg man für sich im Auge hat. Den eigenen "Erfolg" im Leben sollte man tunlichst nicht im Vergleich mit den Wegen, den Errungenschaften, den Wünschen und Statussymbolen anderer bemessen ...
Wer meint, überall dabei sein zu müssen, der überschätzt die Bedeutung und "Vorbildswirkung" anderer für das eigene Dasein nur allzu leicht und schnell. Dem (oder der) sei gesagt, es ist sicherlich nicht beifallswürdig, Esel zu überholen (Martial: "Nulla est gloria praeterire asellos!").
Ich denke, zumindest ist mir das bereits seit früher Jugend wenn nicht gleich zum Prinzip so doch zu einer Art Leitlinie geworden ... Es ist eben ein Ausdruck der Klugheit, zwischen dem, was man erstreben und dem, was man meiden muß, unterscheiden zu können. (Bei Cicero liest sich das so: "Prudentia est rerum expetendarum fugiendarumque scientia!)
Geburtstags-Song
Schon wieder ist ein Jahr vergangen
Wie hat man es diesmal abgehangen
Weitgehend frei oder eher gefesselt
Von fremden Kräften eingekesselt
Oder geschickt auf eigenen Wegen
Empfunden gar ein vielfältig Segen
Was ist geschehen mit all den Lüsten
Womit tat man sich denn entrüsten
Ist man gefahren in den alten Bahnen
Konnte man Neues wenigstens erahnen
Oder ließ man sich oft gar verwüsten
War man mit jenen die stets verbüßten
Hat man beseitigt so manchen Riegel
Oder mutierte man zu einem Eulenspiegel
Was immer im Jahr auch ward geschehen
Allzu eng wird es zumeist dann nicht gesehen
Wie leicht und gerne man sich oft arrangiert
So manchen Unsinn damit stets ausprobiert
Wieviel Spiele hat man denn da so genossen
Sich meist beteiligt so gänzlich unverdrossen
Wie häufig ist man dem stetig Druck erlegen
Wähnte sich dabei jedoch vielmehr verwegen
Ach welch wirkend Zerren, Reißen, Beißen
Ein anödend Verfahren in den alten Geleisen
Ein Jahr nun mehr die Zeit sich zu besinnen
So manchen Zwängen dann fortan entrinnen
Wie wichtig doch der klare Blick in deinen Spiegel
Darauf gebe ich dir deutlich Brief und Siegel
Ja: Ein Jahr nun mehr die Zeit sich zu besinnen
So manchen Zwängen dann fortan entrinnen
Wie wichtig doch der klare Blick in deinen Spiegel
Darauf gebe ich dir deutlich Brief und Siegel
Lebendig die Suche nach etwas mehr an Licht
Damit die Hoffnung nicht so ganz zerbricht
Nun endlich ändern was einem gar nicht behagt
Kraft zu richten wogegen man bisher verzagt
Geburtstag ja man hat es doch eh stets gewußt
Nur eine Folge aus anderer Leute tiefer Lust
Schlicht ist man daraus dann selbst geboren
Nur mehr oder wenig fürs Dasein auserkoren
Doch ist man halt einmal schon dazu gerichtet
Bleibt das Ziel daß man auch für sich gewichtet
Was ganz wertvoll und was voll von Nichtigkeit
Dies ernsthaft zu prüfen sei fürderhin stets bereit
Geburtstag mag in diesem Sinne ein Ansporn sein
Ob man ihn begeht in Kreisen oder auch ganz allein
Ein Tag wie jeder andere kann besonders wirken
Deshalb nicht noch einmal zu viel Zeit verwirken
Es heißt ungeliebter Einförmigkeit nun auszuweichen
Den Herzenswünschen hilfreich die Hand zu reichen
Und also aus tiefstem Herzen und mit großem Elan
Stoßt auf willkommen notwendige Veränderungen an
Dann läßt sich so der Blick in eigenen Spiegel ertragen
Und es gibt weniger Gründe sich immerstets zu beklagen
Happy birthday happy birthday nun in diesem Sinne
Auf daß mehr eigener Sinn endlich an Zukunft gewinne
Happy birthday O ja: Happy birthday Happy birthday
Happy birthday O ja: Happy birthday Happy birthday
(fagusarua 2019)
"Quod caret alterna requie, durabile non est!"
(Was im Wechsel der Ruhe entbehrt, ist nicht von Dauer!)
(Ovid)
It's so much darker when a light goes out than
it would have been if it had never shone.
(John Steinbeck, from: The Winter of Our Discontent)
I was born lost and take no pleasure in being found.
(John Steinbeck, from: Travels With Charley. In Search of America)
I have no choice of living or dying, you see, sir--but I do have a choice of how I do it.
(John Steinbeck, from: The Moon Is Down)
Don't worry about losing. If it is right, it happens - The main thing is not to hurry. Nothing good gets away.
(John Steinbeck)
Wonder Where The Time Has Gone
(C&W song by Thomas Fagusarua)
Watching again all these days go by
Wondering how so many people pass
Looking around oh how they even die
Above them then just flushy silent grass
Learning yet how things so do change
Feeling deep the thoughts come and go
So much hustling it's much too strange
How to change that you'll never know
Honest attempts making the best of it all
And seeing life as some kinda jungleland
Trying to stand upright till that final fall
Still dreaming of moments yet so grand
Keeping away from stupid things they play
Staying numb to each of their rotten word
Walking in lonely shifting sands and sway
Feeling the distance heavenly really grand
And remember all the music on your mind
Being thankful to all that joy they still give
Holly Chochran Horton Cash yeah all so kind
Chapin Williams Cohen extremely curative
Denver Nelson Everly and so many more
Too early knocking on their heaven's door
Remembering those who gave you so much
Whose tone and words still spend living touch
Being now seventy-five and still alive
Thoughts going back only a little while
Was it all worth the struggle and strive
This sticking fast to the mountain rail
Thinking of things that might have been
Does not really lead to something else
Why now judging all the good or mean
No struggle in looking down the wells
Think again of all those done much too soon
And going one's way just the best you can
There'll be a time for howling at the moon
Till this day rather be a wren than yes man
Being seventy-five really's no privilege
It's just a matter of fortune and chance
And what future will bring as sortilege
What kinda colors make one's eyes glance
No reason to howl neither sigh or cry
Let all discomfort around you simply die
No reason to organize an abundant feast
Simply stay on your own island the least
Now it's seventy-five, still in some way alive
Time's getting close so better carefully strive
In your days of seventy-five and still alive
In your days of seventy-five and still alive
(Fagusarua 20.10.2019)
Geburtstag
Selbst: nicht zuständig: für gegebenes Leben
noch für den steten Lauf der Zeit.
Suche nach tiefen Gründen des Feierns:
Traditionelle Belustigungen für andere,
Erbaulichkeiten für wen und was denn?
Wiederbelebung von Vergangenem?
keine Zeit für Torheiten!
Intensive Gedanken an Zukünftiges?
besser sachlich, ruhig bleiben!
Vielleicht der Lauf der Dinge an sich:
verwalten, gestalten, hinnehmen.
(Letzteres nur bisweilen ...)
Die Gegenwart nun lauthals beklagen?
Oder an Zukunftsgedanken verzagen?
keine vergebene Liebesmühen!
Schlichte Blicke in den Spiegel des Jetzt:
einmal verzerrt, dann wieder geglättet
ein Wechsel von jenem Oben und Unten,
fern all der geregelten Gefühlsvorschriften.
Geburtstag als Schlüsseltag? Gewiß!
Besinnung auf Langsamkeit, ein Lob der
Entschleunigung, Suche nach ruhigenden
Oasen fern lauten und dumpfen Mitspielens,
Tanzschritte aus Eigenmaß und Distanz ...
Was bleibt zu feiern? Dies wohl zu Recht:
Die Bedeutung der Bedeutungslosigkeit preisen,
wägen wo Streu, wo Weizen, also: wo Gehalt.
Nach genehmen Wegen spähen, diese gehen:
behutsam, bedächtig, ohne große Eile, denn:
die Zeit eilt ohnehin, ungefragt, frei und still.
Also: Schlüsseltage-Denken als Dauerpflicht.
(Fagusarua 21. Oktober 2019)
Tempora labuntur tacitisque senecimus annis et fugiunt freno non remorante dies!
Ovid (Die Zeit entgleitet, wir altern still mit den Jahren und es entfliehen, ohne dass ein Zügel sie hemmt, die Tage!)
Die Kürze
Wie mein Glück, ist mein Lied. -- Willst du im Abendrot
Froh dich baden? hinweg ists! Und die Erd ist kalt,
Und der Vogel der Nacht schwirrt
Unbequem vor das Auge dir.
Friedrich Hölderlin
"Lord, ain't it strange? After changes upon changes we're more or less the same, more or less the same!"
(Paul Simon in einer Live-Fassung seines Songs "The Boxer")
Berthold Brecht: "Das Wiedersehen" -- Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: "Sie haben sich gar nicht verändert." "Oh!" sagte Herr K. und erbleichte.
»Geschafft!«
Das Tageswerk vollbracht
Freude allenthalben:
Erleichterung!
Glücksgefühle!
Lohn der Anstrengungen.
Vergessen die Tage,
Monate und Jahre:
Ein weiteres Ziel erreicht.
Endlich: engelhaftes Strahlen.
Wieder: mehr sich selbst gehören.
Nach all der endlosen Plagerei,
Nach all dem Verzicht das
Gefühl, wieder Zeit zu haben
Für anderes, vor allem: für sich,
Für eben Wichtigeres im Sein,
wieder freier atmen können ...
Ein vorsichtiges Pochen des Herzens,
Anfrage aus der innersten Tiefe:
Wo sind aber sie Pfade der Ruhe,
Entschleunigung: weg von Hast?
Fliehen jener Fremdbestimmtheit!
Wo sind sie diese Lebensweisen
Einer anderen Genügsamkeit,
Horizonte fern jenes Messens?
Ein »geschafft!« oder »nicht geschafft.«
Als irrelevant Wege ohne solche Maßstäbe ....
(fagusarua, 23.10.2019 / 25.10.2019)
In Abwandlung eines Aphorismus von Ludwig Uhland (er nannte "Gottes Hand" als Ursache für das "Woher?" und "Wohin?", eine mir eher fremd dünkende Ursachenzuschreibung):
Du kamst, du gingst mit leiser Spur,
ein flüchtiger Gast im Erdenland;
Woher? Wohin? Wir wissen nur:
Aus der Natur so gestaltend Hand.
"Der Herbst, der der Erde die Blätter wieder zuzählt,die sie dem Sommer geliehen hat."
(Georg Christoph Lichtenberg)
Herbstspaziergang
Die letzten lauen Lüfte ziehen übers Land
Raschelnde Blätter längst unter den Schritten
Geflohen sind sie schon von hier die Störche
Die dunkleren drückenden Wolken ahnend
All die Schwäne ebenso nun auf ihren Wegen
Kraniche trompeteten sich nach dem Süden
Hiergeblieben nur sind all die Gedanken
Das Wissen um Werden und Vergehen
Es wird bald kalt und einsamer werden
Winde werden ihre alten Lieder heulen
Dunkelheit verdrängt das Licht beizeiten
Deutlicheres Fühlen von Vergänglichkeit
Zurückziehen wie es die Jahreszeiten getan
Dem Rhythmus kürzerer Tage gehorchend
Auch in der Kälte all die Seen aufsuchen
Die schlummernde Natur mit Sinnen umarmen
Sich eben nicht nur dann erinnern und träumen
Um die Wiederkehr des Aufbruchs wissen
Das Leben pulsierend erleben bis hin zur
Endgültigkeit eines letzten Erlöschens
(Fagusarua 28.10.2019)
"Kein Feuer kann sich mit dem Sonnenschein eines Wintertages messen."
Henry David Thoreau (1817 - 1862) -- ja, der von "Walden" ("Or Life in the Woods") / deutsch: "Walden oder Leben in den Wäldern"
... man muß das nur (einfach) sehen, erkennen wollen ...
Auch wenn man natürlich stets die Gegenwart auch (soweit möglich) genießen sollte, darf es unter Umständen stets auch ein Blick in die Zukunft sein:
Der trübe Winter ist vorbei,
die Kranich wiederkehren.
Nun reget sich der Vögel Schrei,
die Nester sich vermehren.
Laub allgemach
nun schleicht an Tag,
die Blümlein sich nun melden,
wie Schlänglein krumm
gern lächelnd um
die Bächlein kühl in Wäldern.
Friedrich von Spee-Langenfeld (1591 - 1635)
It is in vain to write on the seasons unless you have the seasons in you.
Henry David Thoreau
Wunschphantasie
Fliegen wenigstens einmal nur:
getragen auf eigenen Schwingen.
Gehüllt im schlichtem Federkleid
hoch hinauf; fern der allzu nahen
Wirklichkeit: entfliegen, hoch ...
Abstände erkreisen, weit fort von
alltäglicher Niedertracht und dem
Geplärre ekelhafter Aufgeblasenheit.
Flügel ausbreiten weit, weit, weit:
Wesentlichkeit erahnen, von hoch
oben sehen, was wirklich wichtig.
Wünsche reduzieren hinein in die
Überschaubarkeit: sehr distanziert
zu jenen drögen Wiederholungen.
Kreise ziehen, getragen vom Wind,
Wege vom Gold der Sonnenstrahlen
gezeichnet, die Blicke geleitet in das
Traumhafte anderer, neuer Welt.
Fliegen irgendwann sicher landen
am Horizont neuer Möglichkeiten:
Wirklichkeit neu zeichnen, leben,
das Federkleid wieder ablegen ...
(FagusArua, 17.07.2020)
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